Einer von tausend Chemtrails

Die etablierten Narrative sind für viele Menschen aus nachvollziehbaren Gründen unglaubwürdig geworden. Dies hat eine gefühlte „Wahrheitslücke“ hinterlassen. Wie können wir damit umgehen?

Die weißen Streifen des Anstoßes. / Foto: Autor

Unbestreitbar ist, dass während des stark eingeschränkten Flugverkehrs in der Corona-Zeit, wesentlich öfter strahlend blauer Himmel zu beobachten war. Doch dies lässt sich auch sehr gut mit der herkömmlichen Kondensstreifentheorie erklären. Vermutlich hat jedoch dieses Erlebnis des blauen Himmels der Chemtrail-Theorie einen starken Auftrieb gegeben. Die weißen Wolkenstreifen, an die man sich mit zunehmendem Flugverkehr sukzessive gewöhnt hatte, kamen einem erstmals wieder wirklich zu Bewusstsein.

Es gibt Argumente für die Chemtrailtheorie, die hier weder widerlegt noch untermauert werden sollen. Das Thema dieses Beitrags ist vielmehr die Ausschließlichkeit, mit der diese Theorie von ihren Anhängern vertreten und von ihren Gegnern bekämpft wird. Beides trägt oft Züge religiösen Eifers.

Jeder Kondensstreifen, der sich länger in der Luft hält, wird manchem heute zum Chemtrail. „Sie sprühen wieder!“, heißt es dann sorgenvoll. Alles, was sich nicht sofort in der Luft auflöst, wird bei Chemtrail-Jüngern zum Angriff auf uns selbst oder unser Wetter. Wer sowas dann für stehende Kondensstreifen hält, wird schnell zum „Schlafschaf“ gestempelt. Ebenso wird umgekehrt oftmals pauschal die Möglichkeit jeglicher Wettermanipulation vehement bestritten.

Man würde sich tatsächlich lächerlich machen, wenn man die Möglichkeit, dass Flugzeuge Substanzen versprühen können, bestreiten würde. Löschflugzeuge oder die Ausbringung von Düngemitteln und Pestiziden durch Flugzeuge waren noch niemals Geheimtechnologien. Ebenso ist das Ablassen überflüssigen Kerosins vor Notlandungen niemals ein Geheimnis gewesen, das Luftfahrt-Begeisterten nicht bekannt gewesen wäre.

Ob aber die Möglichkeit zur Ausbringung von Substanzen mittels Flugzeugen tatsächlich von finsteren Mächten zur Manipulation unserer Gehirne oder unseres Wetters genutzt wird, ist eine ganz andere Frage. Sicher ist in den letzten Jahren in Deutschland vieles passiert, was auch Mutmaßungen über äußerst diabolische Absichten einer selbsternannten Elite eine gewisse Plausibilität verleiht.

Bis zur Corona-Zeit boten ARD und ZDF vielen Menschen ein vollständiges Narrativ, wie es sich mit unserer Welt verhält: Hier die gute Regierung, die sogar euer Wetter in 100 Jahren schützt, dort die bösen Nazis mit ihren Verschwörungstheorien von der Staatsverschuldung und der nicht zu bewältigenden Massenzuwanderung. Dieses heile Weltbild wurde in den Corona-Jahren für viele erstmals massiv erschüttert.

Doch die Sehnsucht nach einem „Komplettpaket“, einem vollständigen und widerspruchsfreien Narrativ, inklusive klar identifizierbarer Feindbilder, ist in uns Menschen wohl sehr stark verwurzelt. So kommt es wohl nicht selten zu dem geistigen Kurzschluss, dass von allem, was die Regierung verlautbart, das komplette Gegenteil richtig sein müsse. Es ist das gleiche Phänomen, das man bei Ehescheidungen oft beobachten kann: Blinde Liebe und blindes Vertrauen schlägt häufig in ebenso blinden Hass um.

Simple Kondensstreifen sind so für viele denkunmöglich geworden, es gibt nur noch Chemtrails. Und wenn die Regierung sagt, dass die Erde eine runde Kugel ist, dann muss sie eine flache Scheibe sein. Emotional nachvollziehbar ist diese Reaktion schon. Doch wenn wir uns selbst dazu einen guten Rat geben müssten, dann wissen wir, dass auf diesem Weg kein Segen liegt.

Wer uns aber keinen guten Rat geben wollte, sondern es tatsächlich schlecht mit uns meinen würde, der würde uns in solch absoluten Vorstellungen bestärken.

Sicher ist Telegram eine freiere Plattform als sämtliche anderen sozialen Netzwerke. Jedoch wäre es naiv anzunehmen, dass die Mächtigen nicht auch dieses Forum für sich zu nutzen wüssten. Am Registrierungsformular von Telegram ist jedenfalls kein Hinweis zu finden, auf dem steht, „Zutritt für Mächtige verboten“. Und wäre es auf einer solchen regierungskritischen Plattform nicht ohnehin sehr viel sinnvoller, sich als „Lieschen Müller“ denn als „Bundesregierung“ einzuloggen?

Es wäre zudem äußerst naiv anzunehmen, dass geübte Propagandisten ihre Botschaften nicht präzise auf ihr jeweiliges Zielpublikum zuschneiden würden. Dass sie es bei den Regierungskritikern auf Telegram mit ihrem CO²-Klimanarrativ gar nicht versuchen müssen, ist denen schon klar. In diesem Milieu werden sie zu gänzlich anderen Mitteln greifen.

Mit dem Wetterwaffen-Narrativ wird immerhin die Kernprämisse der Klimapanik unterstützt, die besagt, dass es überhaupt einen bemerkbaren Klimawandel gibt. Während der „Corona-Pandemie“ war es ein geflügeltes Wort, dass man diese „Jahrhundertseuche“ ohne die tägliche Berichterstattung darüber gar nicht bemerkt hätte. Wer durch ein höheres Alter bereits ein paar Jahre eigene Erfahrung mit dem Wetter auf dem Buckel hat, der sollte sich selbst mal sehr ernsthaft fragen: Hätte ich diesen „Klimawandel“, den ich jetzt angeblich zu „sehen“ glaube, ohne die tägliche Beschallung aus den Staatsmedien überhaupt bemerkt?

Fakt ist, wir können das meiste, was in der Welt passiert, nicht wirklich wissen. Vieles entzieht sich unseren Erkenntnismöglichkeiten. Wir sind auf Hörensagen angewiesen und auf Vertrauen. Manchen Medien vertrauen wir mehr, manchen weniger, doch das alles bleibt Vertrauen und Glauben. Es ist kein Wissen.

Und Fakt ist auch, es gibt keine Alternative zu selbständigem Denken. Eigenständige Recherche bedeutet nicht, passiv immer weitere Filme aus dem gleichen Medienbiotop zu konsumieren, sondern diese auch mit widersprechenden Quellen im Bemühen um Objektivität abzugleichen. Wir sollten daher auch inhaltliche Kontroversen im regierungskritischen Lager niemals fürchten, sondern immer begrüßen. Nur so werden wir alle klüger. Jeder hat einen unterschiedlichen Erkenntnisstand, niemand hat die Wahrheit gepachtet. Alle müssen sich um einen sachlichen Diskurs bemühen.

Es kann nicht darum gehen, ein verpflichtendes, komplettes Regierungsnarrativ gegen ein ebenso verpflichtendes, komplettes Nicht-Regierungsnarrativ auszutauschen. Unser Ziel sollte es vielmehr sein, freies Denken und freie Debatten endlich wieder möglich zu machen.

Die Zeiten geschlossener Narrative sind, solange das Internet nicht massiv zensiert wird, vorerst vorbei. Es wird notwendig, die Balance zu finden zwischen Aufgeschlossenheit für versteckte Wahrheiten und kritischer Hinterfragung. Seien wir auch besonders kritisch gegen uns selbst. Denn nicht alles, was gut in unser Welt- und Feindbild passt, ist allein deshalb schon wahr.

Wir müssen auch deshalb auf der Hut sein, weil neue Theorien von interessierter Seite auch gezielt zur Demobilisierung, Diskreditierung und Spaltung des Widerstands in Umlauf gebracht worden seinen könnten. Diese Möglichkeit nicht in Betracht zu ziehen, wäre naiv.

Ein wesentlicher Aspekt, den man immer selbst prüfen sollte, ehe man neue Theorien weiterverbreitet, ist, ob mit effektheischenden Theorien nicht von Wesentlichem und Offensichtlichem abgelenkt werden soll. Ist es beispielsweise sinnvoll, sich über die Existenz von Aliens (engl. Fremde) im US-amerikanischen Luftraum den Kopf heiß zu reden, während Millionen real existierende Fremde (keine Aliens) zu Lande über unser Grenzen latschen?

Machen wir uns aber besonders klar: Der religiöse Eifer eines apodiktischen „wer nicht für uns ist, ist gegen uns“ dient immer nur der Spaltung. Solches Denken wird das gemeinsame Ziel eines gesellschaftlichen und politischen Wandels immer beeinträchtigen. Wir sollten es unbedingt vermeiden! Wer an die große Chemtrail-Verschwörung oder die Wettermanipulation mittels HAARP glaubt, der ist deshalb noch lange kein Spinner. Und wer nicht daran glaubt, der ist noch lange kein „Schlafschaf“.

Wir sollten lernen, die gefühlte Wahrheitslücke auszuhalten, die nach dem Zerbrechen unserer „heilen Welt“ entstanden ist. Die Heterogenität der unzähligen neuen Narrative sollten wir eher als Chance, denn als Ärgernis, begreifen. Sehen wir sie doch als Herausforderung, unsere Toleranz, unsere Dialogfähigkeit und unser eigenständiges Denken weiterzuentwickeln. Vielleicht liegt die Wahrheit ja mal wieder einfach nur irgendwo in der Mitte: Vielleicht ist einer von tausend Chemtrails ein echter Chemtrail. Wir wissen es nicht.

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