Das politische System in Deutschland hat viele Defizite, die jetzt in der politisch verursachten Krisenkaskade für jedermann sichtbar zutage treten. Ein zentrales Problem besteht in der dominierenden Stellung der Parteien bei der personellen Zusammensetzung der Parlamente. Über die Wahllisten treffen die Parteien eine Vorauswahl der zukünftigen Abgeordneten, die nicht im Sinne des Bürgers sein kann. Das Wahlrecht von Baden-Württemberg entzieht den Parteien diese Hoheit über die Wahllisten und gibt sie den Wählern zurück.
Dreißig Prozent der Deutschen bezweifeln mittlerweile, dass sie in einer echten Demokratie leben. Dies ist ein Befund, der jeden echten Demokraten eigentlich zutiefst beunruhigen sollte. Doch im medialen Mainstream hört und liest man wenig bis gar nichts darüber. Das Vertrauen in die Demokratie wird zum einen durch Wahlfälschungsskandale und Wahlchaos erschüttert. Zum anderen ist das Gefühl verbreitet, selbst bei korrektem Wahlablauf hätten Wahlen so gut wie keinen Einfluss auf das tatsächliche politische Geschehen. „Wenn Wahlen wirklich etwas ändern würden, wären sie längst verboten“, so lautet ein beliebtes Bonmont, das diese Verzweiflung auf den Punkt bringt.
Eine der Ursachen für dieses Gefühl liegt sicher in mentalen Ermüdungserscheinungen bei nicht wenigen Wählern, die durch die mehrfache Wahl von Scheinopposition entstanden sind. Ebenso trägt auch die im obrigkeitshörigen Deutschland verbreitete Geringschätzung von politischer Opposition zum Ansehensverlust der Demokratie insgesamt bei. „Opposition ist Mist“, diesen demokratieverachtenden Satz hört man leider nicht nur von Berufspolitikern, sondern auch das Wahlvolk hat ihn viel zu tief verinnerlicht. Um die Wirksamkeit politischer Opposition wahrzunehmen, braucht es einer langfristigeren Politikbetrachtung, die hierzulande wenig eingeübt ist. Wählt man daher eine Partei, die nicht in die Regierung kommt, so wirkt dies auf viele Wähler als persönliches „scheitern“; verbundenen damit ist eine narzisstische Kränkung. Die Altparteien und Altmedien wissen diesen psychologischen Mechanismus sehr plump, aber dennoch wirkungsvoll, propagandistisch zu nutzen.
Wie kann nun aber unser Wahlsystem im Bund geändert werden, um unsere repräsentative Demokratie neu zu beleben und dem Volk, dem Souverän, wieder effektiv mehr Einfluss auf die politischen Entscheidungen zu geben?
Sicher hat die „real existierende“ Demokratie in Deutschland heute mehr als nur ein Problem. Aufzuzählen wären hier zuvorderst: Die mangelhafte Trennung von Legislative und Exekutive, die minderheitenfeindliche Fünfprozenthürde, die schiere Größe der Parlamente, die fehlenden Amtszeitbegrenzungen sowie die Tatsache, dass Parlamentarier über ihre Diäten und Pfründe bis dato selbst entscheiden können.
Doch ein weiterer wesentlicher Punkt, an dem unsere repräsentative Demokratie heute krankt, ist der überstarke Einfluss der Parteien auf die personelle Zusammensetzung der Plenarsäle. Mittels ihrer Parteilisten treffen die Parteien eine Vorauswahl für den Bürger. Nach dem Motto „friss oder stirb“ ist der Wähler an diese Parteilisten gebunden. Wohlfeile politische Forderungen nach mehr direkter Demokratie ändern an der Zusammensetzung der Parlamente übrigens überhaupt nichts; oft dienen sie nur als bürgernahes Feigenblatt. Denn der „Arbeitsplatz“ eines Berufspolitikers wird durch Forderungen nach mehr direkter Demokratie nicht gefährdet.
Das System der Wahllisten führte dazu, dass es den hoch ideologisierten Politikertypus geschaffen hat, der sich innerhalb seiner Partei durch besondere Linientreue und Radikalität auszeichnet und so stets die obersten Listenplätze sichern kann. Im gemäßigten Wahlvolk, welches seinen Alltag in der Realität zu bestreiten hat, hätten solch stumpfe Parteisoldaten kaum eine Chance, Zuspruch zu finden. Hat ein solcher Parteipolitiker aber erst mal einen oberen Listenplatz ergattert, ist er persönlich vom Wählerzuspruch für seine Partei mehr oder weniger unabhängig. So kommt es, dass in Deutschland die Führungszirkel ehemals großer Volksparteien nicht nur unser Land, sondern auch ihre Parteien selbst, sehenden Auges vor die Wand fahren. Ideologie siegt bei diesen immer wieder über die Vernunft. Sie nennen es „Haltung“.
In Deutschland gibt es aber bereits ein erprobtes Wahlsystem, das den Parteien die Hoheit über ihre Parteilisten entzieht und diese zurück in die Hand der wählenden Bürger gibt. Es ist das Wahlrecht von Baden-Württemberg, das genau aus diesem Grund bei den Altparteien mehr als unbeliebt ist. Es gab daher mehrere gescheiterte Versuche, dieses Wahlrecht im südwestlichsten Bundesland abzuschaffen. Denn nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis, führt dieses Wahlrecht dazu, dass sogar die Spitzenkandidaten großer Volksparteien am Volkswillen scheitern können. Denn wenn diese weder ihren eigenen Wahlkreis gewinnen, noch auf der imaginären Parteiliste, die der Wähler durch sein Abstimmungsverhalten implizit erstellt, weit genug vorne liegen, sitzen selbst Spitzenkandidaten nicht im Landtag von Baden-Württemberg. Bürgerferne Parteisoldaten siebt dieses Wahlrecht also recht zuverlässig aus.
Die Stimmen sind bei diesem Wahlrecht sehr viel einfacher auszuzählen, als bei anderen Wahlansätze mit vergleichbarer Zielsetzung. Während beispielsweise beim Kumulieren und Panaschieren die Zahl der Stimmmöglichkeiten und damit der Aufwand bei der Auszählung extrem ansteigt, kommt man bei Wahlen im Ländle mit nur einer einzigen Stimme pro Wähler aus. Mit dieser einen Stimme wählt der Wahlberechtigte einen Abgeordneten plus Ersatzkandidaten in seinem Wahlkreis. Der Bestplatzierte des Wahlkreises ist sofort als Direktkandidat qualifiziert. Doch jede Wählerstimme für einen Kandidaten wird zudem als Stimme für dessen Partei gewertet. Die verbleibenden Sitze im Parlament werden dann nach dem Parteienproporz des Gesamtergebnisses vergeben. Das Besondere an diesem Wahlrecht ist: Die Reihenfolge, in der die verbleibenden Parlamentssessel vergeben werden, also quasi die Parteienliste, erstellt der Wähler implizit durch seine Wahl, denn sie wird nach dem relativen Ergebnis der Kandidaten in ihrem jeweiligen Wahlkreis zusammengestellt. Diejenigen Kandidaten, die persönlich in ihren Wahlkreisen die besten Wahlergebnisse erzielt haben, bekommen die verbleibenden „Listenplätze“ dieser Partei. Die Entscheidung, welches Personal einer Partei letztlich ins Parlament einzieht, liegt also wieder beim Wähler selbst. Und wenn eine Partei dem Wähler unter diesen Bedingungen schlechtes Personal anbietet, dann schadet sie damit auch ihrem Gesamtergebnis. Wie man sieht, kann sich so kein Politiker bei diesem Wahlrecht mehr auf einer Parteiliste „verstecken“ und ohne direkte Zustimmung durch den Wähler ins Parlament gelangen. Das erbärmliche Personal, das sich derzeit bei den Altparteien im Bundestag tummelt, dürfte es mit einem solchen Wahlrecht äußerst schwer haben, wiedergewählt zu werden.
Ein Wahlrecht nach dem Vorbild Baden-Württembergs ist auch offensichtlich mit einer starken Bindung der Kandidaten an ihren jeweiligen Wahlkreis verbunden. Auf Deutschland übertragen würde dies heißen: Wer seine Wähler vor Ort in Kleinkleckersdorf nicht von sich überzeugen kann, der sitzt auch nicht im fernen Berliner Reichstag. Der direkte Kontakt zwischen Abgeordneten und Wähler wird hierdurch stark erhöht. Und tatsächliche Bürgernähe ist die beste Vorbeugung gegen eine bürgerferne Politik. Nebenbei würde so auch der Einfluss überregionaler, also meist staatlicher, Medienangebote auf die Wahlen stark eingeschränkt.
Echte Oppositionsparteien, die es mit einem nachhaltigen politischen Wandel in Deutschland ernst meinen, müssen sich heute auch überlegen, wie sie jenen großen Teil der Nichtwähler wiedergewinnen können, der unsere repräsentative Demokratie im Grunde schon komplett abgeschrieben hat. Ein näherer Blick auf das Wahlrecht von Baden-Württemberg scheint hierfür – wie hoffentlich gezeigt – sehr lohnend. Der erwartbare Vorwurf der „Verfassungsfeindlichkeit“, der jeder Forderung nach einem grundsätzlich anderen Wahlrecht folgen wird, läuft hier ins Leere, da dieses Wahlrecht seit Jahrzehnten in Deutschland angewendet wird.