Die Politiker unserer Kindheit

Über Demenz, analoge Inhalte, zwangsgebührenfinanzierte Zeitreisen, alternative Klimarealitäten, „Wetten, dass?“, Neger und begrüßenswerte Warnhinweise. Eine Glosse.

Dürresommer 2023 (Symbolbild) / Lizenz Pixabay Inhaltslizenz

Von Martin Marimbe Mohrlieb

Historische Lifestyle-Dokumentationen sind auf Netflix sehr bliebt: „Die Spielzeuge unserer Kindheit“, „Die Filme unserer Kindheit“, „Die Computerspiele unserer Kindheit“ und so weiter. Wer durch Nostalgie getrieben einen Selbsttest unternimmt, weil er zum Beispiel auf dem Dachboden über eine alte Spielekonsole gestolpert ist, wird schnell feststellen, dass sich der Unterhaltungswert von „Pong“ heute doch in sehr engen Grenzen hält. Die Erinnerung verklärt und vergoldet alles.

Die gleiche Wechseldusche der Gefühle durchlebt man als „Digital Native“, wenn man – ohne es zu wollen – das staatliche Fernsehprogramm ansehen muss. Wenn man zum Beispiel – wie wir neulich – die liebe, leicht demente Oma im Altenheim besucht.

Dass auch das TV-Programm mittlerweile digital übertragen wird, merkt man seinen Inhalten jedenfalls bis heute nicht an. Alles ist dort noch so, wie wir es aus analogen Zeiten kannten. Sogar die Politik: Einen Lambsdorff gibt es zum Beispiel im TV noch. (War der nicht damals schon so alt? Oder ist das dessen Sohn, der auch schon wieder so alt ist?). Auch Steinmeier, Roth, von der Leyen und Katrin Göring-Eckhard scheinen dort eine ewige Jugend zu durchleben. Sie werden dort auch immer noch wie aktuelle Politiker gehandelt. Und Friedrich Merz, der doch bereits vor Jahrzehnten alles hingeschmissen hat, ist dort auch immer noch präsent, als sei nichts geschehen. Aber Merz steht offenbar schon wieder kurz vor seinem Rückzug aus der Politik. Tiefgefrorene Zeit?! Bei Netflix würde das Programm wohl unter dem Titel „Die Politiker unserer Kindheit“ laufen.

Das Parteienspektrum ist ebenfalls noch das Gleiche wie kurz nach der Wiedervereinigung. Die AfD kommt als Partei so gut wie nicht vor, sondern nur als Problem. Sie hat im TV quasi die Rolle übernommen, die der Umweltverschmutzung in den 80er Jahren zukam. Sendungen, die die AfD betreffen, laufen sämtlich nach dem Schema: Umweltverschmutzung – Was kann man dagegen tun? Heute fragen wir heute mal nur diejenigen Politiker, die sie zu verantworten haben. Betroffene kommen nicht zu Wort.

Doch für die monatlichen Zwangsgebühren, die nicht nur unsere TV-abhängige Oma, sondern auch wir, ihre TV-abstinenten Enkel, bezahlen müssen, wird mehr geboten als nur eine politische Zeitreise. Auch eine komplette, alternative Klima-Realität ist im Paketpreis enthalten.

In den 80ern sangen Alphaville noch unschuldig „The sun always shines on TV„. Doch zumindest in diesem Bereich hat sich der Staatsfunk rasant weiterentwickelt. Statt fröhlichem „Ice in the Sunshine“ gibt es im Stundentakt dystopische Statistiken zu vermeintlichen „Hitzetoten“, während der Regen draußen seit Wochen bei 17 °C an die Panoramascheibe prasselt.

Im Garten vor dem Altenheim hat sich übrigens ein neuer Teich selbst angelegt. Frösche sind in den letzten Wochen eingewandert, während im Staatsfunk die Hitze angeblich Flora und Fauna dahingerafft hat. Es war der „heißeste Juli seit hunderttausend Jahren„. Drunter tut man’s nicht mehr.

Mitten im August, unter drei Wolldecken verpackt, schaut unsere Omi in ihrem Sessel einen ARD-Beitrag, wie man seine Haustiere vor der „Hitzewelle“ schützen kann. Die TV-Produzenten hatten sich wohl mit den fertigen Skripten in den Sommerurlaub verabschiedet, ohne die reale Wetterentwicklung abzuwarten. Agenda ist Agenda. Drehplan ist Drehplan. Die Paniklücke nach der ersten Corona-Staffel muss eben geschlossen werden. Auf das Wetter kann dabei keine Rücksicht genommen werden.

Nebenbei: „Wetter“ ist ohnehin eine rechtsextreme Verschwörungstheorie! Es gibt nur Klima! Vor allem, wenn es irgendwie weh tut oder nervt, dann ist es immer Klima, niemals Wetter! Wozu hat man schließlich das Framing-Manual?

Doch auch Senioren schauen ja manchmal aus dem Fenster, statt auf die Mattscheibe. Da könnte der kalte Dauerregen schnell zum „Wasser auf die Mühlen der rechten Klimaleugner“ werden. Um also jede aufkommende Nachdenklichkeit im Keim zu ersticken, werden von Caren Miosga und Co. kurzerhand Erklärvideos nach folgendem Schema eingestreut: Neue Sumpfgebiete trotz Dürresommer? Warum das kein Widerspruch ist, erklären unsere Experten Lesch und Hirschhausen.

Und so geht das eingebildete Schwitzen unserer lieben Oma unter ihrer FFP2-Maske weiter. Die Maske muss jetzt ja wieder auf, denn auch von „Corona“ ist gerade die neue Staffel im TV angelaufen. Unsre Omi trägt die Maske vor dem Fernseher, so wie einst auch Opi – Gott hab ihn selig – seinen BVB-Schal bei Spielen vor der Glotze trug. Sie fühlt sich dann einfach näher dran am Weltgeschehen und mit den „Menschen da draußen“ stärker verbunden.

Das Programmheft verspricht jedenfalls für die nächsten Monate wieder beste Unterhaltung. Die Macher von „Omikron“ und „Höllenhund“ haben sich etwas Neues einfallen lassen. Die neue, sexy Variante heißt „Eris“. Sie ist benannt nach der griechischen Göttin der Zwietracht. Da wird es selbst für die gläubigsten Zeugen Coronas schwer, die absichtsvolle Boshaftigkeit der Pandemieplaner zu bestreiten. Da wird der Kampfgeist der Gläubigen wirklich herausgefordert. Wird „die Neue“ unseren Titelhelden Lauterbach also endlich glücklich machen und die finale Spaltung der Gesellschaft herbeiführen, wie es ihr Name hoffen lässt?

Schalten wir doch lieber mal kurz um, ob irgendwo ein Krimi läuft… „Aktenzeichen XY“ und „Tatort“ gibt es immerhin noch. Das ist sehr beruhigend! Als Autos hätten diese Sendungen bereits vor 40 Jahren ein H-Kennzeichen beantragen können und wären seitdem als Oldtimer von der Kfz-Steuer befreit. Wenigstens diese deutschen „Kulturgüter“ werden also noch von unserem Staat verteidigt. Vielleicht sind diese Sendungen aber auch durch die Ewigkeitsklausel des Grundgesetzes geschützt; müsste man mal googeln.

Jedenfalls werden in diesen Sendungen Ausländer noch vornehmlich von Deutschen abgestochen und nicht umgekehrt. So muss es früher vielleicht mal gewesen sein. Da gibt es sogar noch echte Skinheads, die man selbst in den Nullerjahren nur noch sehr selten im „real life“ gesehen hat. Ja, Traditionen und Feindbilder müssen gepflegt werden, auch wenn sich die Zeiten ändern!

Und auch die Polizei bittet im Staatsfunk noch wie eh und je „die Bürger um ihre Mithilfe“. Und der brave Bürger vertraut im Fernsehen auch noch seiner Polizei, als hätte diese in den vergangenen Jahren niemals auf Corona-Demonstranten und Rentner eingeprügelt. Alles ist vergeben und vergessen, ohne ein einziges Wort der Aussprache! Richtig was fürs Herz! Mehr Kontinuität, Geborgenheit und Wohlgefühl kann Unterhaltungskriminalität heute kaum vermitteln!

Aber da Omi nicht mehr plant, das Heim unbegleitet zu verlassen, fühlt sie sich im besten Deutschland, das wir je hatten, ohnehin sehr sicher. Allenfalls ist sie empört über diese ganzen „Rechten und Reichsbürger“, die „die größte Gefahr darstellen“. Da sind sich im Fernsehen ALLE einig! Und auch die anderen Heimbewohner, die auch alle viel Fernsehen schauen, die sehen das genau so, sagt sie. Menschen, die das anders sehen, sind einfach nicht gut informiert. Die schauen nicht genug Fernsehen, sondern verbringen einfach zu viel Zeit in diesem „Internet“.

Ach übrigens, da war doch mal diese andere nette Oma in der NDR-Talkshow zu sehen, die irgendwen prügeln wollte… Geimpfte oder Rechte oder so. Die hat unserer Omi so richtig imponiert. Die hat ihr gezeigt: Man kann auch im Alter aktiv sein und richtig Spaß haben! Vielleicht kann unsere Oma ja selbst auch bei „Omas gegen rechts“ oder so mitmachen; die trommeln und singen viel, und die schützen die „Brandmauer gegen rechts“. Das ist sooo wichtig, denn nur mit der Brandmauer bleibt Omis heile Fernsehwelt so, wie sie seit 70 Jahren kennt und liebt.

Als Oma uns dann aber erzählte, sie habe „Wetten, dass …?“ mit Thomas Gottschalk als LIVE-SENDUNG(!) im Fernsehen gesehen und auch in diesem Jahr gäbe es wieder eine solche Live-Sendung, waren wir aber doch sehr besorgt um ihren Gesundheitszustand. Doch Omas Pflegepersonal bestätigte uns, dass es diese Sendung tatsächlich im letzten Jahr gegeben habe, und dass tatsächlich eine neue Wetten-Dass-Show im November ’23 geplant sei. Uneinig waren sich ihre Betreuer lediglich darüber, ob es bei der Reanimation dieses Formats um Nostalgie geht oder um den Versuch, die US-Erfolgsserie „The Walking Dead“ mit bekannten Gesichtern für den deutschen Markt zu adaptieren.

Es gibt aber auch echten Fortschritt in der TV-Unterhaltung. Vor Harald Schmidt, Otto und manchen Tatort-Folgen kommt jetzt neuerdings ein Warnhinweis, dass es sich dabei um sehr, sehr alte Produktionen handelt. Das ist wichtig, damit unsere demente* Oma die sehr, sehr alten Wiederholungen von den lediglich sehr alten Wiederholungen unterscheiden kann. Sonst könnte sie glauben, dass die Zeit rund um ihr TV-Gerät komplett zum Stillstand gekommen sei. Sie könnte annehmen, seit 30 Jahren – so wie in „Täglich grüßt das Murmeltier“ – immer und immer wieder den gleichen Tag zu erleben. Sie könnte dann zum Beispiel ihren erst 2015 aus Eritrea eingewanderten Pfleger, Abush, aus Versehen als Neger bezeichnen. Und das wollen wir ja nicht.

*) Manchmal glaube ich übrigens, dass Oma gar nicht richtig dement ist. Sie schaut einfach zu viel Fernsehen.

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