Das steht auf einem anderen Blatt

Wir sind oft hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, politisch zu kämpfen und dem Verlangen, uns nur noch um unsere eigenen Angelegenheiten zu kümmern, uns also ins Private zurückzuziehen. Wir Menschen sind Individuen ebenso wie „Gesellschaftstiere“. Und keiner dieser beiden Aspekte menschlicher Existenz lässt sich dauerhaft ausblenden, ohne dass wir an unserer Seele Schaden nehmen.

Privates Glück oder Gesellschaftsstier?
Privates Glück oder Gesellschaftsstier? / Credits: Alexas_Fotos auf pixabay.com / Lizenz: pixabay-Lizenz

Kürzlich hatte ich Gelegenheit, zwei sehr grundsätzliche, konträre Ansichten in Bezug auf die Gegenwart unmittelbar nacheinander zu hören.

Der erste Sprecher war der Ansicht, alles sei sehr viel schlimmer geworden, als er sich jemals habe vorstellen können: Zensur, die Ausgrenzung Ungeimpfter sowie der Wille zur wirtschaftlichen und kulturellen Selbstvernichtung in diesem Land. Ihm sei angst und bange um die Zukunft.
– Er sprach mir aus dem Herzen.

Der zweite Redner sagte, auch er hab Zukunftsängste, aber erfahrungsgemäß sei letztendlich immer alles nicht so schlimm gewesen, wie er anfangs gedacht habe. Irgendwie gehe es immer weiter. Geld und materieller Wohlstand seien nicht alles. Er habe persönlich schon schlimmere Zeiten erlebt.
– Auch diese Sichtweise sprach mich sehr an.

Die beiden sprachen nur für sich, über ihre persönliche Einschätzung der Zukunft, ohne erkennbare politische Motivation.
Man kann nun sagen, so sei das nun einmal mit dem wankelmütigen Volk, dass es wechselnden Rednern mit völlig konträren Meinungen gleichsam applaudiert. Doch verhält es sich hier nicht viel mehr so, dass zwei unterschiedliche Perspektiven in Bezug auf denselben Punkt im Raum und Zeit geäußert wurden. Die innere und die äußere Wahrheit sind einfach unterschiedliche An-sichten, also unterschiedliche Seiten, des gleichen Sachverhalts. Keine davon ist dabei unbedeutend. Und oft schwanken auch wir selbst zwischen dem Kampf im Äußeren und dem dauerhaften Rückzug in privates Glück oder zumindest doch private Zufriedenheit.

Auch in den unterdrückerischen Systemen der Geschichte und selbst in den grausamsten Zeiten war immer persönliches Glück und persönliche Sinnfindung möglich. Selbst in Ghettos wurde zuweilen gelacht, geliebt und geheiratet. Der in Deutschland leider viel zu unbekannte Victor Frankl entwickelte gar seine gesamte „Logotherapie“, zu Deutsch „Sinntherapie“, aus seinen verzweiflungsvollen Erfahrungen in vier verschiedenen Konzentrationslagern. Dass so etwas möglich ist, sollte uns sehr zuversichtlich stimmen.

Lassen wir uns also nicht von den politischen Umständen entmutigen. Glück, Sinn und Lebensfreude werden auch in Zukunft erfahrbar bleiben. Doch lassen wir uns ebenso wenig vom Streben nach lediglich privater Geborgenheit zum duldsamen, passiven Mitläufer einer zunehmend totalitärer agierenden Gesellschaft machen. Die immer noch existierende Möglichkeit zu privatem Glück, ist keine Entschuldigung, politische Repressionen und Grundrechtseinschränkungen sklavisch hinzunehmen. Wir dürfen uns nicht vorlügen, dass die Welt doch eigentlich in Ordnung sei, weil wir noch Fleisch auf dem Teller haben und die Sonne noch in unserem Garten scheint. Denn dann werden diese privaten Räume immer kleiner werden – und dies nicht nur für uns, sondern für alle Menschen in unserem Land, an denen uns etwas liegt.

Wolf Biermann brachte zu „DDR“-Zeiten die Erfahrung persönlichen Glücks unter bedrückendsten gesellschaftlichen Umstehenden sehr knapp und präzise zum Ausdruck. Sein Lied „Die habe ich satt“, das heute wohl ganz klar als „Hassrede“ gebrandmarkt würde, endet auf die Zeilen:

Und was ich da an Glück auch fand
Das steht auf einem anderen Blatt
Ich hab es satt!

An diesem Punkt sind sehr viele von uns heute wieder angekommen.

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