Bisher verbot es die Brandmauer jeder Altpartei, Anträge einzureichen, die nur mit der Zustimmung der AfD durchsetzbar sind. Wie immer sich Friedrich Merz jetzt auch bemüht, dieses Faktum rhetorisch zu verschleiern, dieser Tabubruch ist nicht mehr rückgängig zu machen.
Merz hat angekündigt, in der nächsten Woche Anträge zum Stopp der illegalen Migration zur Abstimmung zu stellen, die notfalls auch mit Mehrheit der AfD beschlossen werden könnten. Damit hat er eine riesige Bresche in die Brandmauer geschlagen.
Noch vor wenigen Wochen hat Friedrich Merz sich derart große Sorge um „Zufallsmehrheiten“ gemacht, dass er mit den übrigen Kartellparteien übereinkommen wollte, den Bundestag als demokratisches Debattenforum bis zur Neuwahl auszuschalten. Stattdessen sollte die politische Debatte der Kartellparteien komplett in die Hinterzimmer verlegt werden. Allerdings erkannten SPD und Grüne für sich einen strategischen Vorteil darin, diese Offerte (zum Beispiel in der Abtreibungsfrage) zu hintertreiben. Das Altparteienkartell ist mit derartigen kleinen Illoyalitäten im Wahlkampf allerdings keineswegs gesprengt. Jede Altpartei respektiert es, dass jede Kartellpartei für sich die günstigste Ausgangsposition für die nächsten vier Jahre der gemeinschaftlichen Machtverwaltung zu erringen versucht.
Und so hat Friedrich Merz auch umgehend beteuert, dass es auch in Zukunft keine formale Zusammenarbeit mit der AfD geben werde. „Darauf können sich alle verlassen“, sagte Merz. Übersetzt bedeutet das, offizielle Absprachen wird es mit der AfD auch vorerst auf Bundesebene nicht geben und eine Koalition schon gar nicht. Das ist durchaus glaubwürdig, denn es entspricht den Machtinteressen der Union. Für den Wähler bedeutet dies aber: Wer CDU/CSU wählt, wählt weiterhin Grün. Und wer CDU/CSU wählt, wird daher weiterhin mit einem Wirtschaftsminister Habeck rechnen müssen.
Die Brandmauer zu ramponieren ist selbstverständlich hochriskant für die Union. Merz wirkt als Getriebener. Mit der Brandmauer hatte Merz die Union strategisch selbst gefesselt. Der Versuch, das Parlament bis zur Wahl politisch zu lockdownen, war Ausdruck der maximalen Verzweiflung des Friedrich Merz. CDU und CSU fielen in den Umfragen von über 34 Prozent auf Werte unter 30 Prozent zurück. Währenddessen holt die AfD weiterhin Woche um Woche in der Zustimmung auf. Die AfD ist bereits in vielen Umfragen die stärkste Partei vor der von Merz geführten CDU, wenn man diese als eigenständige Partei, also ohne die CSU, betrachtet.
Deshalb simuliert Merz jetzt Entschlossenheit, um zu verbergen, dass Verzweiflung sein eigentlicher Antrieb ist. Merz braucht unbedingt eine Trendwende bei den fallenden Umfragewerten, um auch dem Druck seiner parteiinternen Kritiker zu entkommen. Mit dem Ziel, diese Trendwende anzuheizen, hat er jetzt vor der Wahl ein Strohfeuer entfacht, für das CDU/CSU langfristig teuer werden bezahlen müssen.
Zum einen ist noch gar nicht klar, ob Merz diese Anträge eventuell nur „einbringen“, aber nicht abstimmen lassen wird. Denn nur Ersteres hat er angekündigt. Falls er es allerdings nicht schaffen sollte, bei seinen Kartellpartnern genug Stimmen für seine Anträge zu organisieren, wird der Weltmeister im Zurückrudern sicher vor einer gemeinsamen Abstimmung mit der AfD wieder zurückschrecken. In diesem Fall stünde Merz erneut als zahnloser Tiger dar, der laut brüllt und hoch springt, um dann als Bettvorleger zu landen. Mindestens den nominellen Kanzlerkandidaten Habeck und Scholz dürfte eine solche Bloßstellung ihres Konkurrenten sehr recht sein.
Doch selbst wenn es Merz gelingen sollte, seine Anträge unabhängig von AfD-Stimmen durch den Bundestag zu bekommen, so entsteht für die Union durch dieses Vorgehen langfristig ein immenser Schaden. Denn mit Merz’ offener Spekulation auf Zustimmung durch die AfD, ist ein wesentlicher Teil der Brandmauer dauerhaft zerstört worden. Bisher verbot es die Brandmauer jeder Altpartei, Anträge einzureichen, die nur mit der Zustimmung der AfD durchsetzbar sind. Wie immer sich Friedrich Merz jetzt auch bemüht, dieses Faktum rhetorisch zu verschleiern, dieser Tabubruch ist nicht mehr rückgängig zu machen.
Problemlos rückgängig gemacht werden können dagegen die jetzt von Merz in den Raum gestellten Anträge zur Migration, sollten diese tatsächlich verabschiedet werden. Als Begründung würde beispielsweise reichen, dass man auf den „demokratischen“ grünen Koalitionspartner Rücksicht nehmen müsse. Vierwöchige Grenzkontrollen gab es auch schon mal zur Fußball-Europameisterschaft – und das war keineswegs das Ende der Migration, sondern lediglich eine kurze Atempause! Warum sollte also zukünftig nicht auch vor Wahlen die Migration pausiert werden, um den Wähler zu täuschen? In vier Jahren, wenn dann das nächste Mal gewählt wird, hat der Wähler das alles wieder längst vergessen und eine neue Sau wird durchs mediale Dorf getrieben. Merz weiß also, dass eine solche Rücknahme seiner Anträge nach der Wahl möglich ist. Und seine zukünftigen Koalitionspartner wissen das auch.
Langfristig sind für die Altparteien an Merz‘ taktisch bedingtem Strohfeuer aber dennoch zwei Dinge besonders gefährlich:
Erstens ist durch den neuen Riss in der Brandmauer das Erpressungspotential des Altparteienkartells gegenüber den Wählern gänzlich eliminiert worden. Die Behauptung, wer AfD wähle, der verschenke seine Stimme, zieht nicht mehr. Jeder kann jetzt deutlich sehen, dass die AfD in essenziellen Fragen durchaus den Ausschlag geben kann und andere Parteien notfalls die AfD-Mandate in ihr Kalkül mit einbeziehen. Mit „AfD wirkt“, kann man diesen Effekt auf eine kurze und für die Altparteien gefährliche Formel bringen.
Zweitens – und das ist noch bedrohlicher für die Altparteien – ist die soziale Stigmatisierung der AfD und ihrer Wähler nach diesem Manöver dem Wähler nicht mehr plausibel zu machen. Wer gemeinsam mit der AfD-Gesetze verabschieden will, aber dann Frau Weidel auf dem Flur nicht grüßt, der macht sich lächerlich. Man könnte meinen, es sei doch politisch unerheblich, ob Frau Weidel gegrüßt wird oder nicht, aber das ist es eben nicht: Viele Wähler trauen sich immer noch nicht, die AfD zu wählen oder sich offen zu ihr zu bekennen. Denn das politische und mediale Establishment hat es geschafft, ihr ein unverdientes Igitt-Etikett anzuheften. Wenn dieses Etikett aufgrund der faktischen Kooperation an Haftung verliert, werden noch mehr Bürger ihren Mut wiederfinden, offen für die AfD einzutreten. Nichts fürchten die Altparteien mehr, als den Dammbruch, der passieren wird, wenn die soziale Stigmatisierung der AfD final und für jeden erkennbar gescheitert ist.
Zudem ist bisher noch fraglich, ob das von Merz entfachte Strohfeuer der Union überhaupt den kurzfristigen Auftrieb verschaffen wird, den er sich davon erhofft. Nicht wenige CDU/CSU-Wähler sind mittlerweile selbst so grün wie Merkel, Wüst, Günther, Polenz, Prien und Co. Diese werden die Annäherung an die AfD auf keinen Fall goutieren. Und selbst jene Unions-Wähler, die sich selbst noch zu Recht als Konservative bezeichnen können, mögen sprunghaftes Taktieren und politische Eiertänze in der Regel überhaupt nicht. Sie wollen einen klaren, verlässlichen Kurs von der Partei, die sie wählen. Sie entscheiden sich dann eher die AfD, die seit Jahren zuverlässig für eben jene Inhalte einsteht, die Merz jetzt erst vier Wochen vor der Wahl für sich entdeckt hat.
Es ist also gut möglich, dass das Gegenteil des von Merz beabsichtigten Effekts eintritt. Es wäre nicht das erste Mal, dass Friedrich Merz sich in seiner Wirkung auf den Wähler gravierend verkalkuliert. Langfristig wird die Union auf jeden Fall einen hohen Preis für dieses durchsichtige Wahlkampfmanöver zahlen.