Über die Depression als persönliches Warnsystem.
Wahrscheinlich soll man das nicht und wahrscheinlich „darf“ man das auch gar nicht: Krankheit und Politisches miteinander vermischen. Es ist „unsachlich“ und „unprofessionell“. Dennoch soll es in diesem Text gewagt werden. Vier Jahre in gruppentherapeutischer Behandlung waren für mich nötig, um meine eigene Depression zu überwinden. Damals erreichte die Arbeitslosenzahl unter Gerhard Schröder die Rekordmarke von 5 Millionen Arbeitslosen. Die gesellschaftliche Stimmung schien sich im Großen und Ganzen damit abzufinden. Es gab lahme Debatten darüber, ob es nicht Arbeitsplätze schaffen würde, wenn man auch nach 18 Uhr noch eine Tüte Milch kaufen könnte. In meinem studierten Fach sahen die Arbeitsmarktchancen damals besonders düster aus. Ich habe die politischen Debatten seinerzeit als wahnsinnig empfunden und hatte den Glauben an eine Veränderung unserer Gesellschaft weitgehend aufgegeben. Ich zog mich lange Jahre in mein Bett zurück, mit Horror-Literatur, am liebsten Stephen King. Um es gleich klar zu sagen: Natürlich war das politische Klima damals nicht ursächlich „schuld“ an meiner Depression. Das sehe ich heute umso klarer, als ich die heutige politische Situation um ein Vielfaches verheerender empfinde, ich darauf aber alles andere als depressiv reagiere. Doch dazu gleich mehr.
Der Satz, den wohl jeder Depressive am häufigsten denkt oder sagt, ist: „Ich kann nicht.“ Was konkret alles nicht gekonnt wird, ist individuell etwas unterschiedlich. Ich fand in jener Zeit in der Bahnhofbuchhandlung ein Selbsthilfe-Buch, das im ersten Kapitel vorschlug eine vollständige Liste aller Dinge zu machen, die man „nicht kann“. Diese sollte man sich anschließend mit möglichst lauter Stimme mehrfach selbst vorlesen. Im zweiten Kapitel wurde dann vorgeschlagen, in genau dieser Liste lediglich das Wort „kann“, durch das Wort „will“ zu ersetzen. Aus „ich kann nicht“ wird also „ich will nicht“. Diese umgeschriebene Liste sollte man sich sodann zunächst leise, dann laut, selbst vorlesen und dabei auf die eigenen Emotionen achten; gar nicht so einfach unter dem Eindruck einer akuten Depression. Im dritten Kapitel, dem letzten von dem ich hier berichten will, sollte der Leser seine Liste ein weiteres mal umschreiben. Aus dem bloßen „ich will nicht“ sollte ein „ich will nicht und ich muss auch nicht“ werden. Ich habe leider dieses wertvolle Büchlein – ich war damals knapp bei Kasse – nicht gekauft und auch seinen Titel vergessen. Allerdings hatte es auch so einen sehr heilsamen Effekt. Es zeigte mir einen Weg zur inneren Freiheit, die damals für mich letztlich auf einem Nein, also auf einer Verweigerung basierte. Man darf doch nicht einfach Nein sagen. Man kann doch nicht einfach sagen, ich will dies oder das nicht; schon gar nicht, wenn man selbst keinen besseren Vorschlag hat. So dachte ich damals und so denken wohl viele Depressive. Die tolle Erkenntnis war: Doch, das darf „man“! Und ich darf das auch – in allen meinen Angelegenheiten!
Die Bedeutung dieser Episode für die aktuelle politische Situation wird hier schnell offensichtlich. Gerade am Beispiel der „Refugees-Welcome-Politik“ kann man sehr schön sehen, wie jede Verweigerung unter maximaler, politisch-medialer Ächtung steht: Man „muss“ doch helfen. Man „muss“ doch Menschen aus „Seenot“ retten. Ihr seid bloß „immer dagegen“, aber ihr habt selbst „keine Lösungen“! So und so ähnlich hört man es täglich. Diesen moralisierenden Anwürfen begegnen die meisten Politiker, indem sie Sachargumente entgegenhalten: Die Aufnahmekapazitäten sind erschöpft, die finanziellen Belastungen zu hoch, wir haben Lösungen, schaut mal in unser Wahlprogramm und so weiter und so fort. Alles richtig, aber: Eine solche Argumentation akzeptiert grundsätzlich den „moralischen“ Anspruch der Gegenseite. Es ist nicht anderes als ein depressives „wir können nicht“. Ganz anders reagierte Alexander Gauland, der Merkels berühmter Durchhalteparole den Satz entgegenhielt: „Wir können und WIR WOLLEN DAS GAR NICHT schaffen!“. Er vollzog damit genau diesen gedanklichen Schritt vom nicht können zum nicht wollen. Der Satz hatte eine immens befreiende Wirkung in der politischen Diskussion. Gauland wirkte hier gewissermaßen als ein echtes politisches Antidepressivum! Es ist die innere Freiheit eines jeden Menschen, selbst zu bestimmen, was er will und was nicht. Kurz gesagt: Ich muss gar nichts wollen! Und noch nebenbei bemerkt: Wenn einem jemand absoluten Unsinn abverlangt, dann ist bloßes „dagegen sein“ schon mindestens 95% der Lösung! Da braucht man nicht wirklich eine eigene Agenda. Ein Nein genügt:
Merkels Flüchtlingspolitik?
Will ich nicht!
Und: „Will ich nicht“ ist als Begründung der Ablehnung völlig ausreichend!
Warum ist nun aber dieser Artikel mit „Loblied auf die Depression“ überschrieben? Weil die Depression ein erster Schritt ist. Sie ist der erste Schritt raus aus dem „weiter so“ und „wir schaffen das“. Sie ist das Ende des „Funktionierens“ für eine Aufgabe, deren Sinn und Zweck man nicht wirklich erkennen kann. Sie ist die erste verdruckste Äußerung von „ich kann nicht“, wo man „ich will nicht“ oder „ich mag nicht mehr“ meint. Die Psyche verweigert rein intuitiv einer falschen Sache den Dienst. Deshalb ist die Depression auch gesellschaftlich ein so wichtiges Alarmzeichen. Und genau deshalb wird sie auch in jedem totalitären Systemen tabuisiert oder gar kriminalisiert. In Deutschland gibt es nach wie vor eine gesellschaftliche Ächtung dieses Seelenzustandes. Und selbst geringfügige Depressionssymptome werden hierzulande schnell medikamentös behandelt. Das Bild der gesunden, funktionierenden und glücklichen Menschen muss gewahrt werden. Wie heilsam wäre es aber für unsere Gesellschaft, wenn alle Depressiven mal nur für ein paar Tage ihre Tabletten absetzten und ihr Leid so gut es geht öffentlich machen würden! Es gibt heute, wie zu jeder Zeit, sehr gute persönliche wie gesellschaftliche Gründe dauerhaft niedergeschlagen zu sein. Wenn man sich die 11-Minuten-Applaus-Orgie für unsere Kanzlerin anschaut oder das 100% Ergebnis für Strahlemann Schulz oder die schönfärbenden und weichzeichnenden Artikel in den Leitmedien, dann fehlt doch in der politischen Öffentlichkeit ganz offensichtlich das gesamte negative Gefühlsspektrum. Hoffnungslosigkeit, Ohnmacht, Sorge, Angst, Skepsis, Zweifel, Trauer und auch Wut gehören aber zu jeder Zeit untrennbar zum Menschsein dazu. Diese Gefühle werden derzeit in unseren Medien einzig und allein auf die „traumatisierten Flüchtlinge“ projiziert. Dem braven Merkel-Deutschen dagegen scheint jeder Anflug negativer Emotionen wesensfremd zu sein. Nicht einmal die terroristische Ermordung seiner Landsleute vermag seine dauerhaft gute Laune zu trüben. Wenn aber derartige Gefühle dauerhaft tabuisiert werden, wenn ein Zwang zum Wohlverhalten („no hate speech“), zum Optimismus („wir schaffen das“) oder gar ein Zwang zur Zuneigung („Welcome“) besteht, dann führt das mit der Zeit unweigerlich in die psychische Totalblockade, in die Depression. Und zwar weil sich positive Gefühle nun mal nicht verordnen lassen und unsere Psyche einen solchen Betrug auf Dauer merkt. Man kann also eine Depression getrost als Zeichen verstehen, dass unsere Seele sehr gut weiß, was gut für uns ist und uns Einhalt gebietet. Sie weiß es weit besser, als es unser Verstand (einschließlich der Moral) je begreifen könnte. Von daher fällt es mir heutzutage oftmals sehr schwer, Depressive als „krank“ zu bezeichnen. Im Anbetracht der Umstände scheint mir eine Depression dagegen vielmehr eine oftmals durchaus gesunde(!) Reaktion auf die Verhältnisse zu sein. Im diesem Sinne: Mehr Depressive braucht das Land! Mehr Mut zur Depression!
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Erstveröffentlicht am 18.08.2017 auf fischundfleisch.com:
https://www.fischundfleisch.com/simon-niederleig/loblied-auf-die-depression-38018